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Heinrich von Kleists »Ideenmagazin«

Kleists Handschrift 1801
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[Am 18. November 1800, nach einer abgebrochenen Militärkarriere und einigen schlechten Erfahrungen an der Universität, vertraute Heinrich von Kleist (1777-1811) seiner liebsten Brieffreundin Wilhelmine von Zenge (1780-1852) an: »Du weißt, daß ich mich jetzt für das schriftstellerische Fach bilde. Ich selbst habe mir schon ein kleines Ideenmagazin angelegt, das ich Dir wohl einmal mitteilen und Deiner Beurteilung unterwerfen möchte.« Ein eigener Text Kleists mit dem Titel "Ideenmagazin" ist nicht überliefert, aber seit Frühjahr 1800 häuften sich in seinen Briefen systematische Wiederholungen. Ganze Abschnitte wurden entweder wortwörtlich oder in deutlich erkennbarer Variation, teilweise über Jahre hinweg, mehrfach verwendet; – was darauf schließen lässt, dass zumindest in den Jahren um 1800 ein Heftchen oder ein loses Blättermagazin existiert haben muss, in dem Kleist einzelne, schablonenhafte Textfragmente – Ideen – zum Mehrfachgebrauch sammelte. Kleists prominenter Herausgeber Helmut Sembdner (1914-1997) schrieb dazu: »Bei manchen Briefen, wie den an Caroline von Schlieben vom 18. Juli 1801 oder den zehn Tage später geschriebenen an Frau von Werdeck, gewinnt man den Eindruck, daß hier eine Handvoll glänzender Perlen des "Ideenmagazins" zusammengesucht wurden, um an einem neuen Faden zu einem besonderen Schmuckstück aneinandergereiht zu werden.« In der folgenden Zusammenstellung sämtlicher von Helmut Sembdner belegter Ideen-Verwendungen in den Briefen und - selten - in den Stücken Kleists, haben wir alle Wiederholungen chronologisch dem ersten Auftritt einer Idee jeweils mit einem kurzen Stück Kontext gegenübergestellt. Die Form der Zitation dabei ist: <Adressatin, Ort, Datum>, die Wiederholungen sind unterstrichen; jede neue Idee wird mit ">>> <<<" eingeleitet. Eine Ausnahme bildet die speziell markierte Passage zu Kleists sogenannter Kantkrise, in der sich mehrere Ideen sozusagen krisenhaft ineinander verhaken.]

[Für "Ideengänge" haben wir zu jeder Idee, die uns für die Beschreibung von Straßenkreuzungen brauchbar schien, eine passende Textbaustein-Karteikarte geschrieben. Ein Verweis auf die jeweilige Karte - sie zeigt sich beim Anklicken in einem Popup-Fenster - findet sich über der entsprechenden Textstelle des "Ideenmagazins". Die Ideenkartei tragen wir bei jedem Kleist-Spaziergang bei uns und überlegen uns an jeder Ecke, an der der Algorithmus uns vorschreibt abzubiegen, welche Idee für eine Beschreibung dieser Ecke oder für eine Beschreibung unserer Stimmung an dieser Ecke in Frage kommt. Dann schauen wir, welche Wörter sich dort anbieten, um sie in die Freiräume einzutragen. Die Kartei wird sich im Laufe der Ideengänge verändern. Unser Testgang hat es schon gezeigt. Es werden, im vermuteten Sinne Kleists, neue Freiräume eingefügt und eventuell zusätzliche Karten zu Textstellen geschrieben, zu denen es jetzt noch keine gibt. Wir konnten nicht an alle Möglichkeiten, die das "Ideenmagazin" uns für unsere postalischen Spaziergänge bietet, sofort vorab zu Hause sitzend denken, so wollen wir lieber spazieren gehen, und denken (»»» Idee 22).]

>>> Idee II:1 | Karte 01 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Frankfurt a.d.O., Frühjahr 1800]
Mutiger und sicherer als wenn er nie auf hellen Pfaden gewandelt wäre, wird er nun auch die dunkeln Wege seines Lebens durchwandeln und in der Erinnerung zuweilen mit wehmütiger Freude die bemoosten Ruinen seines ehemaligen Glückes besuchen, um das Herbstblümchen der Weisheit zu pflücken.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. + 29. Juli 1801]
Aber wenn ein unruhiges Schicksal uns zerstreut, wenn die rohen Bedürfnisse des Daseins die leiseren übertäuben, wenn die Notwendigkeit uns zu denken, zu streben, zu handeln zwingt, wenn neue Gedanken sich zeigen und wieder verschwinden, neue Wünsche sich regen und wieder sinken, neue Bande sich knüpfen, und wieder zerreißen, wenn wir dann zuweilen, flüchtig, mit ermatteter Seele, die geliebten Ruinen besteigen, das Blümchen der Erinnerung zu pflücken, und dann auch hier alles leer und öde finden, die schönsten Blöcke in Staub und Asche gesunken, die letzten Säulen dem Sturze nah, bis zuletzt das ganze Monument matt und flach ist, wie die Ebene, die es trägt, dann erst verwelkt das Leben, dann bleicht es aus, dann verliert es alle seine bunten Farben –
>>> Idee II:2 | Karte 02 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 16. Aug. 1800]
Aber, unter uns gesagt, je öfter ich Berlin sehe, je gewisser wird es mir, daß diese Stadt, so wie alle Residenzen und Hauptstädte kein eigentlicher Aufenthalt für die Liebe ist. Die Menschen sind hier zu zierlich, um wahr, zu gewitzigt, um offen zu sein.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen, und dabei tun, als ob sie es nicht merkten.
>>> Idee II:3 | Karte 03 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Dresden, 3. + 4. Sep. 1800]
Die Gegend schien fruchtbar und blühend, aber die Sonne war hinter einem Schleier von Regenwolken versteckt, und wenn die Könige trauern, so trauert auch das Land.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Ich habe den Harz bereiset und den Brocken bestiegen. Zwar war an diesem Tage die Sonne in Regenwolken gehüllt, und wenn die Könige trauren, so trauert das Land. Über das ganze Gebirge war ein Nebelflor geschlagen, und wir standen vor der Natur, wie vor einem Meisterstücke, das der Künstler aus Bescheidenheit mit einem Schleier verhüllt hat.
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>>> Idee II:4 | Karte 04 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Öderan, 4. + 5. Sep. 1800]
Die ganze Gegend sieht aus wie ein bewegtes Meer von Erde. Das sind nichts als Wogen, immer die eine kühner als die andern.

[Wilhelmine von Zenge, Leipzig, 21. Mai 1801]
Von Dresden aus machten wir auch noch eine große Streiferei nach Töplitz, 8 Meilen, eine herrliche Gegend, besonders von dem nahegelegenen Schloßberge aus, wo das ganze Land aussieht wie ein bewegtes Meer von Erde, die Berge, wie kolossalische Pyramiden, in den schönsten Linien geformt, als hätten die Engel im Sande gespielt – Von Töplitz fuhren wir tiefer in Böhmen nach Lowositz, das am südlichen Fuße des Erzgebirges liegt, da, wo die Elbe hineintritt.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
– und die Felsen im Hintergrunde von Königstein, die wie ein bewegtes Meer von Erde aussehen, und in den schönsten Linien geformt sind, als hätten da die Engel im Sande gespielt
>>> Idee II:5 | Karte 05 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 15. Sep. 1800]
Nun, übereile Dich nicht. Ein Frühlingssonnenstrahl reift die Orangenblüte, aber ein Jahrhundert die Eiche. Ich möchte gern etwas Gutes, etwas Seltenes, etwas Nützliches von Dir erhalten das ich selbst gebrauchen kann; und das Gute bedarf Zeit, es zu bilden. Das Schnellgebildete stirbt schnell dahin.

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 29. + 30. Nov. 1800]
Du fragst, warum das Tier so schnell, der Mensch so langsam sich ausbilde? Die Frage ist doch allerdings sehr interessant. Zur Antwort möchte überhaupt schon der allgemeine Grundsatz dienen, daß die Natur immer um so viel mehr Zeit braucht, ein Wesen zu bilden, je vollkommner es werden soll. Das findet sich selbst im Pflanzenreiche bestätigt. Die Gartenpflanze braucht ein paar Frühlingsmorgen, die Eiche ein halbes Jahrhundert, um auszuwachsen.
>>> Idee II:6 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 15. Sep. 1800]
Alle echte Aufklärung des Weibes besteht zuletzt darin, vernünftig über die Bestimmung ihres irdischen Lebens nachdenken zu können. Über den Zweck unseres ganzen ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuß der Glückseligkeit, wie Epikur meinte, oder die Erreichung der Vollkommenheit, wie Leibnitz glaubte, oder die Erfüllung der trocknen Pflicht, wie Kant versichert, der letzte Zweck des Menschen sei, das ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich.

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 16. Sep. 1800]
Alle echte Aufklärung des Weibes besteht am Ende wohl nur darin, meine liebe Freundin: über die Bestimmung seines Irdischen Lebens vernünftig nachdenken zu können.
Über die Bestimmung unseres ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuß der Glückseligkeit (wie Epikur meinte) oder die Erreichung der Vollkommenheit (wie Leibnitz glaubte) oder die Erfüllung der trocknen Pflicht (wie Kant versichert) der letzte Zweck des Menschen sei, das, liebe Freundin, ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich. Solche Männer begehen die Unart, die ich beging, als ich mich im Geiste von Frankfurt nach Stralsund, und von Stralsund wieder im Geiste nach Frankfurt versetzte. Sie leben in der Zukunft, und vergessen darüber, was die Gegenwart von ihnen fordert.
>>> Idee II:7 | Karte 06 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 15. Sep. 1800]
Wie können wir uns getrauen, in den Plan einzugreifen, den die Natur für die Ewigkeit entworfen hat, da wir nur ein so unendlich kleines Stück von ihm, unser Erdenleben, übersehen? Also wage Dich mit Deinem Verstande nie über die Grenzen Deines Lebens hinaus. Sei ruhig über die Zukunft.

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 16. Sep. 1800]
Urteile selbst, wie können wir beschränkte Wesen, die wir von der Ewigkeit nur ein so unendlich kleines Stück, unser spannenlanges Erdenleben übersehen, wie können wir uns getrauen, den Plan, den die Natur für die Ewigkeit entwarf, zu ergründen? Und wenn dies nicht möglich ist, wie kann irgendeine gerechte Gottheit von uns verlangen, in diesen ihren ewigen Plan einzugreifen, von uns, die wir nicht einmal imstande sind, ihn zu denken?
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>>> Idee II:8 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 15. Sep. 1800]
Was Du für dieses Erdenleben tun sollst, das kannst Du begreifen, was Du für die Ewigkeit tun sollst, nicht; und so kann denn auch keine Gottheit mehr von Dir verlangen, als die Erfüllung Deiner Bestimmung auf dieser Erde. Schränke Dich also ganz für diese kurze Zeit ein. Kümmre Dich nicht um Deine Bestimmung nach dem Tode, weil Du darüber leicht Deine Bestimmung auf dieser Erde vernachlässigen könntest.

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 16. Sep. 1800]
Ich schränke mich daher mit meiner Tätigkeit ganz für dieses Erdenleben ein. Ich will mich nicht um meine Bestimmung nach dem Tode kümmern, aus Furcht, darüber meine Bestimmung für dieses Leben zu vernachlässigen. Ich fürchte nicht die Höllenstrafe der Zukunft, weil ich mein eignes Gewissen fürchte, und rechne nicht auf einen Lohn jenseits des Grabes, weil ich ihn mir diesseits desselben schon erwerben kann.
>>> Idee II:9 | Karte 07 + Karte 08 <<< 

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 19. Sep. 1800]
Zuweilen – ich weiß nicht, ob Dir je etwas Ähnliches glückte, und ob Du es folglich für wahr halten kannst. Aber ich höre zuweilen, wenn ich in der Dämmerung, einsam, dem wehenden Atem des Westwindes entgegengehe, und besonders wenn ich dann die Augen schließe, ganze Konzerte, vollständig, mit allen Instrumenten von der zärtlichen Flöte bis zum rauschenden Kontra-Violon. So entsinne ich mich [daß ich] besonders einmal als Knabe vor 9 Jahren, als ich gegen den Rhein und gegen den Abendwind zugleich hinaufging, und so die Wellen der Luft und des Wassers zugleich mich umtönten, ein schmelzendes Adagio gehört habe, mit allem Zauber der Musik, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen begleitenden Harmonie. Es war wie die Wirkung eines Orchesters, wie ein vollständiges Vaux-hall; ja, ich glaube sogar, daß alles was die Weisen Griechenlands von der Harmonie der Sphären dichteten, nichts Weicheres, Schöneres, Himmlischeres gewesen sei, als diese seltsame Träumerei.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Ach, ich entsinne mich, daß ich in meiner Entzückung zuweilen, wenn ich die Augen schloß, besonders einmal, als ich an dem Rhein spazieren ging, und so zugleich die Wellen der Luft und des Stromes mich umtönten, eine ganze vollständige Sinfonie gehört habe, die Melodie und alle begleitenden Akkorde, von der zärtlichen Flöte bis zu dem rauschenden Kontra-Violon. Das klang mir wie eine Kirchenmusik, und ich glaube, daß alles, was uns die Dichter von der Sphärenmusik erzählen, nichts Reizenderes gewesen ist, als diese seltsame Träumerei.
>>> Idee II:10 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 20. Sep. 1800]
Keine Tugend ist doch weiblicher als Sorge für das Wohl anderer, und nichts dagegen macht das Weib hässlicher und gleichsam der Katze ähnlicher als der schmutzige Eigennutz, das gierige Einhaschen für den eignen Genuß. Das läßt sich freilich verstecken; aber es gibt eine himmlische Güte des Weibes, alles, was in ihre Nähe kommt, an sich zu schließen, und an ihrem Herzen zu hegen und zu pflegen mit Innigkeit und Liebe, wie die Sonne (die wir darum auch Königin nennen, nicht König) alle Sterne, die in ihren Wirkungsraum schweben, an sich zieht mit sanften, unsichtbaren Banden, und in frohen Kreisen um sich führt, Licht und Wärme und Leben ihnen gebend – aber das läßt sich nicht anlernen. – – –

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Ja, es gibt eine gewisse himmlische Güte, womit die Natur das Weib bezeichnet hat, und die ihm allein eigen ist, alles, was sich ihr mit einem Herzen nähert, an sich zu schließen mit Innigkeit und Liebe: so wie die Sonne, die wir darum auch Königin, nicht König nennen, alle Weltkörper, die in ihrem Wirkungsraum schweben, an sich zieht mit sanften unsichtbaren Banden, und in frohen Kreisen um sich führt, Licht und Wärme und Leben ihnen gebend,bis sie am Ende ihrer spiralförmigen Bahn an ihrem glühenden Busen liegen –

[Marie von Kleist, Berlin, 17. Sep. 1811]
Sagen Sie mir, wodurch habe ich so viele Liebe verdient? Oder habe ich sie nicht verdient, und schenken Sie sie mir bloß, weil Sie überhaupt nicht hassen können, weil Sie alles, was sich Ihrem Kreise nähert, mit Liebe umfassen müssen?
>>> Idee II:11 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 10. Okt. 1800]
Liebe und Bildung, das ist alles, was ich begehre, und wie froh bin ich, daß die Erfüllung dieser beiden unerlaßlichen Bedürfnisse, ohne die ich jetzt nicht mehr glücklich sein könnte, nicht von dem Himmel abhangt, der, wie bekannt, die Wünsche der armen Menschen so oft unerfüllt läßt, sondern einzig und allein von Dir.

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 13. Nov. 1800]
Ich will von der Freiheit nicht reden, weil Du mir schon einmal Einwürfe dagegen gemacht hast, ob Du zwar wohl gleich, wie alle Weiber, das nicht recht verstehen magst; aber Liebe und Bildung sind zwei unerlaßliche Bedingungen meines künftigen Glückes – – und was könnte mir in einem Amte davon zuteil werden, als höchstens ein karger, sparsamer Teil von beiden?
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>>> Idee II:12 | Karte 09 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 10. Oktober 1800]
Besuche den Tanzsaal – aber sei froh, wenn Du von einem Vergnügen zurückkehrst, wobei nur die Füße ihre Rechnung fanden, das Herz aber und der Verstand den Pulsschlag ihres Lebens ganz aussetzten, und das Bewußtsein gleichsam ganz ausgelöscht war. Gehe in frohe Gesellschaften, aber suche Dir immer den Bessern, Edleren heraus, den, von dem Du etwas lernen kannst – denn das darfst Du in keinem Augenblicke Deines Lebens versäumen.

[Wilhelmine von Zenge, Göttingen, 3. Juni 1801]
Und nun lebe wohl. Heute sind wir hier auf einem Balle, wo die Füße springen werden, indessen das Herz weint. Dann geht der Körper immer weiter und weiter von Dir, indessen die Seele immer zu Dir zurückstrebt.
>>> Idee II:13 | Karte 10 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 11. Okt. 1800]
Gradeaus strömt der Main von der Brücke weg, und pfeilschnell, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es, ungeduldig, auf dem kürzesten Wege ereilen – aber ein Rebenhügel beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit edler Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird – – und er ehrt die bescheidne Warnung und folgt der freundlichen Weisung, und gibt sein voreiliges Ziel auf und durchbricht den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe, seine blumigen Füße ihm küssend

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Pfeilschnell strömt der Rhein heran von Mainz und gradaus, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es ungeduldig auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) tritt ihm in den Weg und beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird – – und er ehrt die edle Warnung und gibt, der freundlichen Weisung folgend, sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe dankbar seine blumigen Füße ihm küssend

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Pfeilschnell strömt der Rhein heran von Mainz, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es, ungeduldig, auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird – Und er ehrt die edle Warnung und gibt sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht, der freundlichen Weisung folgend, den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe seine blumigen Füße ihm küssend
>>> Idee II:14 | Karte 11 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 11. Oktober 1800]
In der Tiefe, sagte ich, liegt die Stadt, wie in der Mitte eines Amphitheaters.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Was macht auch mein liebes Dresden? Ich sehe es noch vor mir liegen in der Tiefe der Berge, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Durch ihre Mitte fließt der Rhein, zwei Paradiese aus einem zu machen. In der Tiefe liegt Mainz, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters.
>>> Idee II:15 | Karte 12 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 11. Oktober 1800]
Die Terrassen der umschließenden Berge dienten statt der Logen, Wesen aller Art blickten als Zuschauer voll Freude herab und sangen und sprachen Beifall, oben in der Loge des Himmels stand Gott.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Die Terrassen der umschließenden Berge dienten statt der Logen, Wesen aller Art blickten als Zuschauer voll Freude herab, und sangen und sprachen Beifall – Oben in der Himmelsloge stand Gott.
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>>> Idee II:16 | Karte 13 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 11. Oktober 1800]
Ein blauer Schleier umhüllte die ganze Gegend, und es war, als wäre der azurne Himmel selbst herniedergesunken auf die Erde.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Ein blauer Schleier, wie in Italien gewebt, umhüllte die Gegend, und es war, als ob der Himmel selbst hernieder gesunken wäre auf die Erde
>>> Idee II:17 | Karte 14 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Würzburg, 11. Okt. 1800]
Hügel und Täler und Wasser, und Städte und Dörfer, alles durcheinander wie ein gewirkter Fußteppich! Der Main wandte sich bald rechts, bald links, und küßte bald den einen, bald den andern Rebenhügel, und wankte zwischen seinen beiden Ufern, die ihm gleich teuer schienen, wie ein Kind zwischen Vater und Mutter.

[Wilhelmine von Zenge, Dresden, 21. Mai 1801]
Von der Höhe des Zwingers kann man seinen [der Elbe] Lauf fast bis nach Meißen verfolgen. Er wendet sich bald zu dem rechten, bald zu dem linken Ufer, als würde die Wahl ihm schwer, und wankt, wie vor Entzücken, und schlängelt sich spielend in tausend Umwegen durch das freundliche Tal, als wollte er nicht in das Meer
>>> Idee II:18 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 13. Nov. 1800]
Ich will kein Amt nehmen. Warum will ich es nicht? – O wie viele Antworten liegen mir auf der Seele! Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen darf. Ich soll tun, was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist.

[Ulrike von Kleist, Berlin, 25. Nov. 1800]
Wahr ist es, daß es mir schwer werden würde, in ein Interesse einzugreifen, das ich gar nicht prüfen darf – und das muß ich doch, wenn ich bezahlt werde?
>>> Idee II:19 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 13. Nov. 1800]
nein, Wilhelmine, es geht nicht, ich passe mich für kein Amt. Ich bin auch wirklich zu ungeschickt, um es zu führen. Ordnung, Genauigkeit, Geduld, Unverdrossenheit, das sind Eigenschaften, die bei einem Amte unentbehrlich sind, und die mir doch ganz fehlen.

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 13. Nov. 1800]
nein, Wilhelmine, es geht nicht, es geht nicht. Ja, ich bin selbst zu ungeschickt mir ein Amt zu erwerben. Denn zufrieden mir wirklich Kenntnisse zu erwerben, bekümmert es mich wenig, ob andere sie in mir wahrnehmen.

[Ulrike von Kleist, Berlin, 25. Nov. 1800]
Ich fühle mich zu ungeschickt mir ein Amt zu erwerben, zu ungeschickt es zu führen, und am Ende verachte ich den ganzen Bettel von Glück zu dem es führt.
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>>> Idee II:20 | Karte 15 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 13. Nov. 1800]
Das Ziel ist gewiß hoch genug und erhaben, da gibt es gewiß Stoff genug zum Handeln – – und wenn ich auch auf dieser Erde nirgends meinen Platz finden sollte, so finde ich vielleicht auf einem andern Sterne einen um so bessern.

[Ulrike von Kleist, Berlin, 25. Nov. 1800]
Also sei auch Du so ruhig, mein liebes Ulrikchen, als ich es bin, und denke mit mir, daß wenn ich hier keinen Platz finden kann, ich vielleicht auf einem andern Sterne einen um so bessern finden werde.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Blicken Sie zuweilen, wenn es Nacht ist, in den Himmel. Wenn Sie auf diesem Sterne keinen Platz finden können, der Ihrer würdig ist, so finden Sie vielleicht auf einem andern einen um so bessern.
>>> Idee II:21 | Karte 16 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 13. Nov. 1800]
Wir werden uns in diesem unruhigen Leben so selten unsrer bewußt – die Gedanken und die Empfindungen verhallen wie ein Flötenton im Orkane – so manche Erfahrung geht ungenutzt verloren – das alles kann ein Tagebuch verhüten.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan. Darum schließe ich zuweilen die Augen und denke an Dresden –
>>> Idee II:22 | Karte 17 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 16. Nov. 1800]
Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt.
Gewoelbe-Zeichnung v. Kleist
[Penthesilea, Vers 1349f.]
PROTHOE: So hebst du dich empor? – Nun, meine Fürstin,
So sei's auch wie ein Riese! Sinke nicht,
Und wenn der ganze Orkus auf dich drückte!
Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht,
Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!
Beut deine Scheitel, einem Schlußstein gleich,
Der Götter Blitzen dar, und rufe, trefft!
Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten,
Nicht aber wanke in dir selber mehr,
Solang ein Atem Mörtel und Gestein,
In dieser jungen Brust, zusammenhält.
Komm. Gib mir deine Hand.
>>> Idee II:23 | Karte 18 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 16. Nov. 1800]
In jener herrlichen Nacht, als ich von Leipzig nach Dresden reisete, dachte ich mit wehmütiger Freude: am Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Sterne.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Der helle Sonnenschein des Glücks, der uns verblendet, ist auch nicht einmal für unser schwaches Auge gemacht. Am Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Sterne
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>>> Idee II:24 | Karte 19 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 18. Nov. 1800]
Der Sturm reißt den Baum um, aber nicht das Veilchen, der leiseste Abendwind bewegt das Veilchen, aber nicht den Baum. – Womit hat das eine vortreffliche Ähnlichkeit?

[Adolphine von Werdeck, Paris, 29. Juli 1801]
Die abgestorbene Eiche, sie steht unerschüttert im Sturm, aber die blühende stürzt er, weil er in ihre Krone greifen kann

[Familie Schroffenstein, Vers 961ff.]
– Nein, sage nichts. Ich weiß das. Freilich mag
Wohl mancher sinken, weil er stark ist. Denn
Die kranke abgestorbne Eiche steht
Dem Sturm, doch die gesunde stürzt er nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
– Nicht jeden Schlag ertragen soll der Mensch,
Und welchen Gott faßt, denk ich, der darf sinken,
– Auch seufzen.

[Penthesilea, Vers 3041ff.]
Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte!
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
>>> Idee II:25 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 18. Nov. 1800]
Wenn Du in der Küche das kochendheiße Wasser in das kühlere Gefäß gießest, und die sprudelnde Flüssigkeit, indem sie das Gefäß ein wenig erwärmt, selbst dadurch abgekühlt wird, bis die Temperaturen (Wärmegrade) in beiden sich ins Gleichgewicht gesetzt haben – welche vortreffliche Hoffnung ist daraus für uns beide, und besonders für mich zu ziehen, oder worauf deutet das hin?

[Ulrike von Kleist, 25. Nov. 1800]
Ja, wenn man den warmen Körper unter die kalten wirft, so kühlen sie ihn ab – und darum ist es wohl recht gut, wenn man fern von den Menschen bleibt.
>>> Idee II:26 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 18. Nov. 1800]
Nämlich so: Gesetzt Du fändest darin den Satz, daß die äußere (vordere) Seite des Spiegels nicht eigentlich bei dem Spiegel die Hauptsache sei, ja, daß diese eigentlich weiter nichts ist, als ein notwendiges Übel, indem sie das eigentliche Bild nur verwirrt, daß es aber hingegen vorzüglich auf die Glätte und Politur der inneren (hinteren) Seite ankomme, wenn das Bild recht rein und treu sein soll – – welchen Wink gibt uns das für unsere eigne Politur, oder wohin deutet das?

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 29. Nov. 1800]
Ganz vortrefflich, besonders dem Sinne nach, ist der Gedanke, daß es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, auf seine eigne Beschaffenheit ankommt, wie fremde Gegenstände auf ihn einwirken sollen. Das ist vielleicht der beste Gedanke, den jemals ein Mädchen vor dem Spiegel gehabt hat.

[Ulrike von Kleist, Berlin, 5. Feb. 1801]
Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß wohl, daß es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, eigentlich auf die eigne Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirken sollen;
>>> Idee II:27 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 29. Nov. 1800]
Wie mancher Mensch würde aufhören, über die Verderbtheit der Zeiten und der Sitten zu schelten, wenn ihm nur ein einzigesmal der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist?

[Ulrike von Kleist, Berlin, 5. Feb. 1801]
und mancher würde aufhören über die Verderbtheit der Sitten zu schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist.
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>>> Idee II:28 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 11. Jan. 1801]
wo ein Hülfloser lag, da gingen sie, ihm zu helfen; wo ein Auge in Tränen stand, da eilten sie, sie zu trocknen; alles was schön ist und edel und gut und groß, das faßten sie mit offner, empfänglicher Seele auf, es darzustellen in sich; ihr Herz erweiterte sich, die Seele hob sich ihnen unter der Brust, sie umfaßten irgendein Ideal, dem sie sich verähnlichen wollten –

[Caroline von Schlieben, Paris, 5. Juli 1801]
O folgen Sie immer diesem schönsten der Triebe; aber lieben Sie dann auch mit edlerer Liebe alles was edel und gut ist und schön.
>>> Idee II:29 | Karte 20 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 11. Jan. 1801]
Frage Dich immer in jeder Lage Deines Lebens ehe Du handelst: wie könntest Du hier am edelsten, am schönsten, am vortrefflichsten handeln? – und was Dein erstes Gefühl Dir antwortet, das tue. Das nenne ich das Ideal, das Dir immer vorschweben soll.

[Heinrich Lohse, Liestal, 23. Dez. 1801]
Ach, höre, willst Du mich nicht noch einmal umarmen? Nichts, nichts gedacht, frage Dein erstes Gefühl, dem folge – – Und wenn es doch das letzte Wort wäre – O Gott, so sage ich Dir und allen Freuden das Lebewohl Lebewohl Lebewohl.
>>> Idee II:30 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 31. Jan. 1801]
Huth hat mich in sein Interesse gezogen und mich aus meiner Einsamkeit ein wenig in die gelehrte Welt von Berlin eingeführt, – worin es mir aber, im Vorbeigehn gesagt, so wenig gefällt, als in der ungelehrten. Allein Du selbst kannst daraus schließen, wie karg ich mit der Zeit sein mußte, um notwendige Arbeiten nicht ganz zu versäumen.

[Ulrike von Kleist, Berlin, 5. Feb. 1801]
Huth ist hier und hat mich in die gelehrte Welt eingeführt, worin ich mich aber so wenig wohl befinde, als in der ungelehrten. Diese Menschen sitzen sämtlich wie die Raupe auf einem Blatte, jeder glaubt seines sei das beste, und um den Baum bekümmern sie sich nicht.
>>> Idee II:31 | Karte 21 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 31. Jan 1801]
Sein Grundsatz war: Handeln ist besser als Wissen. Daher sprach er selbst zuweilen verächtlich von der Wissenschaft, und nach seiner Rede zu urteilen so schien es, als wäre er immer vor allem geflohen, was ihr ähnlich sieht –

[Ulrike von Kleist, Berlin, 5. Feb. 1801]
Wissen kann unmöglich das Höchste sein – handeln ist besser als wissen. Aber ein Talent bildet sich im stillen, doch ein Charakter nur in dem Strome der Welt.

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 10. Okt. 1801]
Ich kann Dir nicht beschreiben, wie ekelhaft mir ein wissender Mensch ist, wenn ich ihn mit einem handelnden vergleiche. Kenntnisse, wenn sie noch einen Wert haben, so ist es nur, insofern sie vorbereiten zum Handeln. Aber unsere Gelehrten, kommen sie wohl, vor allem Vorbereiten, jemals zum Zweck? Sie schleifen unaufhörlich die Klinge, ohne sie jemals zu brauchen, sie lernen und lernen, und haben niemals Zeit, die Hauptsache zu tun. –
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>>> Idee II:32 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 31. Jan. 1801]
– dann prüfe einmal das Betragen, aber besonders den Grund, und oft wirst Du vor andern oder vor Dir selbst erröten müssen – Vielleicht hat die Natur Dir jene Klarheit, zu Deinem Glücke, versagt, jene traurige Klarheit, die mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund nennt. Sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst, in seiner ganzen armseligen Blöße, und der farbige Nebel verschwindet, und alle die gefällig geworfnen Schleier sinken und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – O glücklich bist Du, wenn Du das nicht verstehst. Aber glaube mir, es ist sehr schwer immer ganz uneigennützig zu sein.

[Ulrike von Kleist, Berlin, 5. Feb. 1801]
– Ach, es gibt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst in seiner ganzen armseligen Blöße, und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – – Dazu kommt bei mir eine unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist, weil sie wahrscheinlich eine ganz physische Ursache hat.
>>> [Kantkrise] Idee II:33 | Karte 22 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 22. März 1801]
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich
Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr
Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt. Ich bin untätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offne Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeehäuser, ich habe Schauspiele und Konzerte besucht, um mich zu zerstreuen, ich habe sogar, um mich zu betäuben, eine Torheit begangen, die Dir Carl lieber erzählen mag, als ich; und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem äußeren Tumulte mit glühender Angst bearbeitete, immer nur dieser: dein einziges, dein höchstes Ziel ist gesunken
An einem Morgen wollte ich mich zur Arbeit zwingen, aber ein innerlicher Ekel überwältigte meinen Willen. Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht an Deinem Halse zu weinen, oder wenigstens einen Freund an die Brust zu drücken. Ich lief, so schlecht das Wetter auch war, nach Potsdam, ganz durchnäßt kam ich dort an, drückte Leopold, Gleißenberg, Rühle ans Herz, und mir ward wohler – –
Rühle verstand mich am besten. Lies doch, sagte er mir, den Kettenträger (ein Roman). Es herrscht in diesem Buche eine sanfte, freundliche Philosophie, die dich gewiß aussöhnen wird, mit allem, worüber du zürnst. Es ist wahr, er selbst hatte aus diesem Buche einige Gedanken geschöpft, die ihn sichtbar ruhiger und weiser gemacht hatten. Ich faßte den Mut diesen Roman zu lesen.
Die Rede war von Dingen, die meine Seele längst schon selbst bearbeitet hatte. Was darin gesagt ward, war von mir schon längst im voraus widerlegt. Ich fing schon an unruhig zu blättern, als der Verfasser nun gar von ganz fremdartigen politischen Händeln weitläufig zu räsonieren anfing – Und das soll die Nahrung sein für meinen glühenden Durst? – Ich legte still und beklommen das Buch auf den Tisch, ich drückte mein Haupt auf das Kissen des Sofa, eine unaussprechliche Leere erfüllte mein Inneres, auch das letzte Mittel, mich zu heben, war fehlgeschlagen – Was sollst du nun tun, rief ich. Nach Berlin zurückkehren ohne Entschluß? Ach, es ist der schmerzlichste Zustand ganz ohne ein Ziel zu sein, nach dem unser Inneres, frohbeschäftigt, fortschreitet – und das war ich jetzt –
Du wirst mich doch nicht falsch verstehen, Wilhelmine? – Ich fürchte es nicht.
In dieser Angst fiel mir ein Gedanke ein. Liebe Wilhelmine, laß mich reisen. Arbeiten kann ich nicht, das ist nicht möglich, ich weiß nicht zu welchem Zwecke. Ich müßte, wenn ich zu Hause bliebe, die Hände in den Schoß legen, und denken. So will ich lieber spazieren gehen, und denken. Die Bewegung auf der Reise wird mir zuträglicher sein, als dieses Brüten auf einem Flecke. Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten, und schützt mich vor einer andern, die vielleicht unwiderruflich wäre. Sobald ich einen Gedanken ersonnen habe, der mich tröstet, sobald ich einen Zweck gefaßt habe, nach dem ich wieder streben kann, so kehre ich um, ich schwöre es Dir. Mein Bild schicke ich Dir, und Deines nehme ich mit mir. Willst Du es mir unter diesen Bedingungen erlauben?
N. S. Heute schreibe ich Ulriken, daß ich wahrscheinlich, wenn Du es mir erlaubst, nach Frankreich reisen würde. Ich habe ihr versprochen, nicht das Vaterland zu verlassen, ohne es ihr vorher zu sagen. Ml sie mitreisen, so muß ich es mir gefallen lassen. Ich zweifle aber, daß sie die Bedingungen annehmen wird. Denn ich kehre um, sobald ich weiß, was ich tun soll. Sei ruhig. Es muß etwas Gutes aus diesem innern Kampfe hervorgehn.

[Ulrike von Kleist, Berlin, 23. März 1801]
Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und daß folglich das Bestreben, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert. –Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und suche ein neues Ziel, dem mein Geist, frohbeschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, und eine innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf Kaffeehäuser und Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe, um mich zu zerstreuen und zu betäuben, Torheiten, die ich mich schäme aufzuschreiben, und doch ist der einzige Gedanke, den in diesem äußern Tumult meine Seele unaufhörlich mit glühender Angst bearbeitet, dieser: dein einziges, und höchstes Ziel ist gesunken – – Ich hab mich zwingen wollen zur Arbeit, aber mich ekelt vor allem, was Wissen heißt. Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir deutlich bewußt zu sein, wohin ich will? – Mein Wille ist zu reisen. Verloren ist die Zeit nicht, denn arbeiten könnte ich doch nicht, ich wüßte nicht, zu welchem Zwecke? Ich will mir einen Zweck suchen, wenn es einen gibt. Wenn ich zu Hause bliebe, so müßte ich die Hände in den Schoß legen und denken; so will ich lieber spazieren gehen, und denken. Ich kehre um, sobald ich weiß, was ich tun soll. Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten und schützt mich vielleicht vor einer andern, die unwiderruflich wäre. Ich habe Dir versprochen, das Vaterland nicht zu verlassen, ohne Dich davon zu benachrichtigen, und ich erfülle mein Wort.
>>> Idee II:34 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 9. April 1801]
Denn nichts als Schmerzen gewährt mir dieses ewig bewegte Herz, das wie ein Planet unaufhörlich in seiner Bahn zur Rechten und zur Linken wankt, und von ganzer Seele sehne ich mich, wonach die ganze Schöpfung und alle immer langsamer und langsamer rollenden Weltkörper streben, nach Ruhe! . . .

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 14. April 1801]
Vielleicht geht doch noch etwas Gutes aus dieser verwickelten Begebenheit meines Lebens hervor – liebe Wilhelmine, soll ich Dir sagen, daß ich es fast hoffe? Ach, ich sehne mich unaussprechlich nach Ruhe!

[Wilhelmine von Zenge, Leipzig 21. Mai 1801]
Könntest Du bei diesem Glück nicht auch alles aufgeben, was jenseits der Berge liegt? Ich könnte es – ach, ich sehne mich unaussprechlich nach Ruhe. Für die Zukunft leben zu wollen – ach, es ist ein Knabentraum, und nur wer für den Augenblick lebt, lebt für die Zukunft.
>>> Idee II:35 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Berlin, 14. April 1801]
O Gott, wenn mir einst das bescheidne Los fallen sollte, das ich begehre, ein Weib, ein eignes Haus und Freiheit – o dann wäre es nicht zu teuer erkauft mit allen Tränen, die ich, und mit allen die Du vergießest, denn mit Entzückungen wollte ich sie Dir vergüten.

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 21. Juli 1801]
Ist mir nicht jede ehrliche Arbeit willkommen, und will ich einen größern Preis, als Freiheit, ein eignes Haus und Dich?

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 15. Aug. 1801]
Dem hat der Himmel ein Geheimnis eröffnet, der das tut und weiter nichts. Freiheit, ein eignes Haus, und ein Weib, meine drei Wünsche, die ich mir beim Auf– und Untergange der Sonne wiederhole, wie ein Mönch seine drei Gelübde!
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>>> Idee II:36 | Karte 23 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Dresden, 4. Mai 1801]
Ich blickte von dem hohen Ufer herab über das herrliche Elbtal, es lag da wie ein Gemälde von Claude Lorrain unter meinen Füßen – es schien mir wie eine Landschaft auf einen Teppich gestickt, grüne Fluren, Dörfer, ein breiter Strom, der sich schnell wendet, Dresden zu küssen, und hat er es geküßt, schnell wieder flieht – und der prächtige Kranz von Bergen, der den Teppich wie eine Arabeskenborde umschließt – und der reine blaue italische Himmel, der über die ganze Gegend schwebte –

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 21. Mai 1801]
Der Strom verläßt plötzlich sein rechtes Ufer, und wendet sich schnell nach Dresden, seinen Liebling zu küssen.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
und die Elbe, die schnell ihr rechtes Ufer verläßt, ihren Liebling Dresden zu küssen,
>>> Idee II:37 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Leipzig, 21. Mai 1801]
Täglich habe ich die griechischen Ideale und die italienischen Meisterstücke besucht, und jedesmal, wenn ich in die Galerie trat, stundenlang vor dem einzigen Raphael dieser Sammlung, vor jener Mutter Gottes gestanden, mit dem hohen Ernste, mit der stillen Größe, ach Wilhelmine, und mit Umrissen, die mich zugleich an zwei geliebte Wesen erinnerten –

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Entsinnen Sie sich dessen wohl noch, der Sie zuweilen durch den Olymp der Griechen voll Göttern und Heroen führte, und oft mit Ihnen vor der Mutter Gottes stand, vor jener hohen Gestalt, mit der stillen Größe, mit dem hohen Ernste, mit der Engelreinheit?

[Adolphine von Werdeck, Paris + Frankfurt a.M., Nov. 1801]
– Ach, in Dresden war eine Gestalt, die mich wie ein geliebtes, angebetetes Wesen in der Galerie fesselte – und ich kann mir jetzt die Schwärmerei der alten Chevalerie, Traumgestalten wie Lebende anzubeten, sehr wohl erklären.
>>> Idee II:38 | Karte 24 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Leipzig, 21. Mai 1801]
Dresden hat eine große, feierliche Lage, in der Mitte der umkränzenden Elbhöhen, die in einiger Entfernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu treten wagten, es umlagern.

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
– ich sehe die Elbhöhen, die in einiger Entfernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu rücken wagten, gelagert sind, und gleichsam von Bewunderung angewurzelt scheinen –
>>> Idee II:39 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Göttingen, 3. Juni 1801]
Ich ehre Ulrike ganz unbeschreiblich, sie trägt in ihrer Seele alles, was achtungswürdig und bewundrungswert ist, vieles mag sie besitzen, vieles geben können, aber es läßt sich, wie Goethe sagt, nicht an ihrem Busen ruhen – Doch dies bleibt, wie alles, unter uns –

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Aber – soviel sie auch besitzen, soviel sie auch geben kann, an ihrem Busen läßt sich doch nicht ruhen. – Sie ist eine weibliche Heldenseele, die von ihrem Geschlechte nichts hat, als die Hüften, ein Mädchen, das orthographisch schreibt und handelt, nach dem Takte spielt und denkt

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Aber – ein Mensch kann viel besitzen, vieles geben, es läßt sich doch nicht immer, wie Goethe sagt, an seinem Busen ruhen – Sie ist ein Mädchen, das orthographisch schreibt und handelt, nach dem Takte spielt und denkt, ein Wesen, das von dem Weibe nichts hat, als die Hüften, und nie hat sie gefühlt, wie süß ein Händedruck ist – Aber sie mißverstehen mich doch nicht –?
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>>> Idee II:40 | Karte 25 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Aber zu schnell wechseln die Erscheinungen im Leben und zu eng ist das Herz, sie alle zu umfassen, und immer die vergangnen schwinden, Platz zu machen den neuen – Zuletzt ekelt dem Herzen vor den neuen, und matt gibt es sich Eindrücken hin, deren Vergänglichkeit es vorempfindet – Ach, es muß öde und leer und traurig sein, später zu sterben, als das Herz

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
– Wie viele Freuden habe ich auf dieser Reise genossen, wie viel Schönes gesehen, wie viele Freunde gefunden, wie viele großen Augenblicke durchlebt – Aber zu schnell wechseln die Erscheinungen im Leben, zu eng ist das Herz sie alle zu umfassen, und immer die vergangnen schwinden, Platz zu machen den neuen – Zuletzt ekelt dem Herzen vor den neuen, und matt gibt es sich Eindrücken hin, deren Vergänglichkeit es vorempfindet – Ach, es muß leer und öde und traurig sein, später zu sterben, als das Herz
>>> Idee II:41 | Karte 26 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Man geht kalt aneinander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihresgleichen; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn andern verdrängt;

[Marie von Kleist, Chalons sur Marne [aus der Gefangenschaft], Juni 1807]
Ach, es ist ein ermüdender Zustand dieses Leben, recht, wie Sie sagten, eine Fatigue. Erscheinungen rings, daß man eine Ewigkeit brauchte, um sie zu würdigen, und, kaum wahrgenommen, schon wieder von andern verdrängt, die ebenso unbegriffen verschwinden.
>>> Idee II:42 | Karte 27 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan.

[Luise von Zenge, Paris, 16. Aug. 1801]
Zwei Antipoden können einander nicht fremder und unbekannter sein, als zwei Nachbarn von Paris, und ein armer Fremdling kann sich gar an niemanden knüpfen, niemand knüpft sich an ihn
>>> Idee II:43 | Karte 28 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Das ist eine Gegend wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt.

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 21. Juli 1801]
Ach, Wilhelmine, das ist eine Gegend, wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Ach, das ist eine Gegend, wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt.
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>>> Idee II:44 | Karte 29 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Aber still und breit und majestätisch strömt er bei Bingen heran, und sicher, wie ein Held zum Siege, und langsam, als ob er seine Bahn wohl vollenden würde – und ein Gebirge [der Hundsrück] wirft sich ihm in den Weg, wie die Verleumdung der unbescholtenen Tugend. Er aber durchbricht es, und wankt nicht, und die Felsen weichen ihm aus, und blicken mit Bewunderung und Erstaunen auf ihn hinab – doch er eilt verächtlich bei ihnen vorüber, aber ohne zu frohlocken, und die einzige Rache, die er sich erlaubt, ist diese, ihnen in seinem klaren Spiegel ihr schwarzes Bild zu zeigen

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Aber still und breit und majestätisch strömt er bei Bingen heran, und sicher, wie ein Held zum Siege, und langsam, als ob er seine Bahn doch wohl vollenden würde – Und ein Gebirge [der Hundsrück] wirft sich ihm in den Weg, wie die Verleumdung der unbescholtenen Tugend. Er aber durchbricht es, und wankt nicht, und die Felsen weichen ihm aus, und blicken mit Bewunderung und Erstaunen auf ihn hinab – doch er eilt verächtlich bei ihnen vorüber, aber ohne zu frohlocken, und die einzige Rache, die er sich erlaubt, ist diese, ihnen in seinem klaren Spiegel ihr schwarzes Bild zu zeigen
>>> Idee II:45 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Ich wäre auf dieser einsamen Reise, die ich mit meiner Schwester machte, sehr glücklich gewesen, wenn, – wenn – – Ach, liebe Freundin, Ulrike ist ein edles, weises, vortreffliches, großmütiges Mädchen, und ich müßte von allem diesen nichts sein, wenn ich das nicht fühlen wollte.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Ich wäre auf dieser Rheinreise sehr glücklich gewesen, wenn – wenn – – Ach, gnädigste Frau, es gibt wohl nichts Großes in der Welt, wozu Ulrike nicht fähig wäre, ein edles, weises, großmütiges Mädchen, eine Heldenseele in einem Weiberkörper, und ich müßte von allem diesen nichts sein, wenn ich das nicht innig fühlen wollte.
>>> Idee II:46 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
– Doch still davon. Auch der leiseste Tadel ist zu bitter für ein Wesen, das keinen Fehler hat, als diesen, zu groß zu sein für ihr Geschlecht.

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Doch still davon. Das klingt ja fast wie ein Tadel – und selbst der leiseste ist zu bitter für ein Wesen, das keinen anderen Fehler hat, als diesen, zu groß zu sein für ihr Geschlecht.
>>> Idee II:47 | Karte 30 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
In welchem Weltteile ich einst das Pflänzchen des Glückes pflücken werde, und ob es überhaupt irgendwo für mich blüht–? Ach, dunkel, dunkel ist das alles.

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 21. Juli 1801]
Auch werde ich die Blüte des Glückes pflücken müssen, wo ich sie finde, überall, gleichviel in welchem Lande, und dazu gehört Liebe – Was sagst Du dazu?
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>>> Idee II:48 <<<

[Caroline von Schlieben, Paris, 18. Juli 1801]
Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen, – wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen? Kurz, wir standen beide ganz frisch und gesund von dem Steinpflaster auf und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß die Räder zuoberst standen, ein Rad war ganz zerschmettert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das alles kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden, am andern Morgen ging es weiter – Wann wird der letzte sein?

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 21. Juli 1801]
Unsere Pferde aber, die das Unglück haben, keine Vernunft zu besitzen, hoben sich kerzengrade in die Höhe, und gingen dann spornstreichs mit uns über dem Steinpflaster durch. Ich griff nach der Leine – aber die Zügel lagen den Pferden, aufgelöset, über der Brust, und ehe wir Zeit hatten, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug unser leichter Wagen schon um, und wir stürzten – Also an ein Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es geschlossen gewesen wäre, darum hätte ich gelebt? Das wäre die Absicht des Schöpfers gewesen bei diesem dunkeln, rätselhaften irdischen Leben? Das hätte ich darin lernen und tun sollen, und weiter nichts –? Doch, noch war es nicht geschlossen. Wozu der Himmel es mir gefristet hat, wer kann es wissen? – Kurz, wir standen beide frisch und gesund von dem Steinpflaster auf, und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, die Räder zuoberst, ein Rad war ganz zertrümmert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen. Das kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden; dann ging es weiter – wohin? Gott weiß es.
>>> Idee II:49 | Karte 31 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 21. Juli 1801]
Das Leben ist das einzige Eigentum, das nur dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen können, und nur der kann es zu großen Zwecken nutzen, der es leicht und freudig wegwerfen könnte.

[Familie Schroffenstein, Vers 2368]
EUSTACHE sinkt auf die Knie.
Ottokar! Auf meinen Knien bitte,
Beschwör ich dich, geh so verächtlich nicht
Mit deinem Leben um, spring nicht vom Turm. –
OTTOKAR.
Das Leben ist viel wert, wenn man's verachtet.
Ich brauch's. – Leb wohl. Er springt.
EUSTACHE steht auf.
Zu Hülfe! Hülfe! Hülfe!
Der Vorhang fällt.
>>> Idee II:50 | Karte 32 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 21. Juli 1801]
Das klang ja wohl recht finster? Geduld – Es wird nicht immer so sein, und ich sehne mich nach einem Tage, wie der Hirsch in der Mittagshitze nach dem Strome, sich hineinzustürzen – Aber Geduld! – Geduld –?

[Das Käthchen von Heilbronn, V/12]
KÄTHCHEN.
Mein hoher Herr! Sprich! Was bedeutet mir –?
DER GRAF VOM STRAHL.
Zuerst, mein süßes Kind, muß ich dir sagen,
Daß ich mit Liebe dir, unsäglich, ewig,
Durch alle meine Sinne zugetan.
Der Hirsch, der von der Mittagsglut gequält,
Den Grund zerwühlt, mit spitzigem Geweih,
Er sehnt sich so begierig nicht,
Vom Felsen in den Waldstrom sich zu stürzen,
Den reißenden, als ich, jetzt, da du mein bist,
In alle deine jungen Reize mich.
KÄTHCHEN schamrot.
Jesus! Was sprichst du? Ich versteh dich nicht.
>>> Idee II:51 <<<

[Wilhelmine von Zenge, 21. Juli 1801]
Ich habe hier schon durch Humboldt und Luchesini einige Bekanntschaften französischer Gelehrter gemacht, auch schon einige Vorlesungen besucht – Ach, Wilhelmine, die Menschen sprechen mir von Alkalien und Säuren, indessen mir ein allgewaltiges Bedürfnis die Lippe trocknet

[Adolphine von Werdeck, Paris, 28. Juli 1801]
Ich habe auch schon einigen Vorlesungen beigewohnt – Ach, diese Menschen sprechen von Säuren und Alkalien, indessen mir ein allgewaltiges Bedürfnis die Lippe trocknet
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>>> Idee II:52 | Karte 33 <<<

[Adolphine von Werdeck, Paris, 29. Juli 1801]
Zuweilen gehe ich, mit offnen Augen durch die Stadt, und sehe – viel Lächerliches, noch mehr Abscheuliches, und hin und wieder etwas Schönes. Ich gehe durch die langen, krummen, engen, mit Kot oder Staub überdeckten, von tausend widerlichen Gerüchen duftenden Straßen,

[Luise von Zenge, Paris, 16. Aug. 1801]
denken Sie sich enge, krumme, stinkende Straßen, in welchen oft an einem Tage Kot mit Staub und Staub mit Kot abwechseln, denken Sie sich endlich einen Strom, der, wie mancher fremde Jüngling, rein und klar in diese Stadt tritt, aber schmutzig und mit tausend Unrat geschwängert, sie verläßt, und der in fast grader Linie sie durchschneidet, als wollte er den ekelhaften Ort, in welchen er sich verirrte, schnell auf dem kürzesten Wege durcheilen

[Luise von Zenge, Paris, 16. Aug. 1801]
zuweilen gehe ich durch die langen, krummen, engen, schmutzigen, stinkenden Straßen,
>>> Idee II:53 | Karte 34 <<<

[Adolphine von Werdeck, Paris, 29. Juli 1801]
an den schmalen, aber hohen Häusern entlang, die sechsfache Stockwerke tragen, gleichsam den Ort zu vervielfachen,

[Luise von Zenge, Paris, 16. Aug. 1801]
Denken Sie sich in der Mitte zwischen drei Hügeln, auf einem Flächenraum von ohngefähr einer Quadratmeile, einen Haufen von übereinandergeschobenen Häusern, welche schmal in die Höhe wachsen, gleichsam den Boden zu vervielfachen, denken Sie sich alle diese Häuser durchgängig von jener blassen, matten Modefarbe, welche man weder gelb noch grau nennen kann,
>>> Idee II:54 | Karte 35 <<<

[Adolphine von Werdeck, Paris, 29. Juli 1801]
ich winde mich durch einen Haufen von Menschen, welche schreien, laufen, keuchen, einander schieben, stoßen und umdrehen, ohne es übelzunehmen, ich sehe jemanden an, er sieht mich wieder an, ich frage ihn ein paar Worte, er antwortet mir höflich, ich werde warm, er ennuyiert sich, wir sind einander herzlich satt, er empfiehlt sich, ich verbeuge mich, und wir haben uns beide vergessen, sobald wir um die Ecke sind – Geschwind gehe ich nach dem Louvre und erwärme mich an dem Marmor, an dem Apoll vom Belvedere, an der mediceischen Venus, oder trete vor das herrliche niederländische Tableau, wo der Sauhirt den Ulysses ausschimpft –

[Luise von Zenge, Paris, 16. Aug. 1801]
ich winde mich durch einen Haufen von Menschen, welche schreien, laufen, keuchen, einander schieben, stoßen, umdrehen, ohne es übel zu nehmen, ich sehe einen fragend an, er sieht mich wieder an, ich frage ihn ein paar Worte, er antwortet mir höflich, ich werde warm, er ennuyiert sich, wir sind einander herzlich satt, er empfiehlt sich, ich verbeuge mich, und wir haben einander vergessen, sobald wir um die Ecke sind – Geschwind laufe ich nach dem Louvre, und erwärme mich an dem Marmor, an dem Apoll von Belvedere, an der mediceischen Venus, oder trete unter die italienischen Tableaus, wo Menschen auf Leinwand gemalt sind –
>>> Idee II:55 | Karte 36 <<<

[Adolphine von Werdeck, Paris, 29. Juli 1801]
Dann ist es Abend, dann habe ich ein brennendes Bedürfnis, das alles aus den Augen zu verlieren, alle diese Dächer und Schornsteine und alle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel – aber gibt es einen Ort in dieser Stadt, wo man ihrer nicht gewahr würde?

[Luise von Zenge, Paris, 16. Aug. 1801]
wenn ich dann, ohne Beute, ermüdet zurückkehre, und still stehe auf dem Pont–neuf, über dem Seinestrom, diesem einzigen schmalen Streifen Natur, der sich in diese unnatürliche Stadt verirrte, o dann habe ich eine unaussprechliche Sehnsucht, hinzufliegen nach jener Höhe, welche bläulich in der Ferne dämmert, und alle diese Dächer und Schornsteine aus dem Auge zu verlieren, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel – Aber gibt es einen Ort in der Gegend dieser Stadt, wo man ihrer nicht gewahr würde?
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>>> Idee II:56 <<<

[Adolphine von Werdeck, Paris, 29. Juli 1801]
Ach, daß wir ein Leben bedürfen, zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir im Tode erst ahnden, was der Himmel mit uns will! –

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 15. Aug. 1801]
Ja, wahrlich, wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt – – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern?
>>> Idee II:57 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 15. Aug. 1801]
Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten – Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort –? Und was uns auch die Geschichte von Nero, und Attila, und Cartouche, von den Hunnen, und den Kreuzzügen, und der spanischen Inquisition erzählt, so rollt doch dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge wiederholen sich, und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie vor.
[Wilhelmine von Zenge, Paris, 10. Okt. 1801]
– Ach, es ist so schwer, zu bestimmen, was gut ist, der Wirkung nach. Selbst manche von jenen Taten, welche die Geschichte bewundert, waren sie wohl gut in diesem reinen Sinne? Ist nicht oft ein Mann, der einem Volke nützlich ist, verderblich für zehn andere?
>>> Idee II:58 <<<

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 15. Aug. 1801]
Lebensgenuß seinen Geschöpfen zu geben, das ist die Verpflichtung des Himmels; die Verpflichtung des Menschen ist es, ihn zu verdienen. Ja, es liegt eine Schuld auf den Menschen, etwas Gutes zu tun, verstehe mich recht, ohne figürlich zu reden, schlechthin zu tun

[Wilhelmine von Zenge, Paris, 10. Okt. 1801]
Ein großes Bedürfnis ist in mir rege geworden, ohne dessen Befriedigung ich niemals glücklich sein werde; es ist dieses, etwas Gutes zu tun. Ja, ich glaube fast, daß dieses Bedürfnis bis jetzt immer meiner Trauer dunkel zum Grunde lag, und daß ich mich jetzt seiner bloß deutlich bewußt geworden bin. Es liegt eine Schuld auf dem Menschen, die, wie eine Ehrenschuld, jeden, der Ehrgefühl hat, unaufhörlich mahnt.
>>> Idee II:59 <<<

[Wilhelmine von Zenge 10. Okt. 1801]
– Darum will ich mich losreißen, von allen Verhältnissen, die mich unaufhörlich zwingen zu streben, zu beneiden, zu wetteifern. Denn nur in der Welt ist es schmerzhaft, wenig zu sein, außer ihr nicht. –

[Ulrike von Kleist, Bern, 12. Jan. 1802]
Ach, es ist unverantwortlich, den Ehrgeiz in uns zu erwecken, einer Furie zum Raube sind wir hingegeben – Aber nur in der Welt wenig zu sein, ist schmerzhaft, außer ihr nicht.
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>>> Idee II:60 | Karte 37 <<<

[Ulrike von Kleist, Basel, 16. Dez. 1801]
Ein stiller Landregen fiel überall nieder. Ich suchte Sterne in den Wolken und dachte mancherlei. Denn Nahes und Fernes, alles war so dunkel. Mir war's wie ein Eintritt in ein anderes Leben. –

[Familie Schroffenstein, Vers 846]
GERTRUDE.
Nun, er erholt sich, Gott sei Dank. –
SYLVESTER.
Gertrude –
GERTRUDE.
Sylvester, kennst du mich, kennst du mich wieder?
SYLVESTER.
Mir ist so wohl, wie bei dem Eintritt in
Ein andres Leben.
GERTRUDE.
Und an seiner Pforte
Stehn deine Engel, wir, die Deinen, liebreich
Dich zu empfangen.
>>> Idee II:61 | Karte 38 <<<

[Ulrike von Kleist, Basel, 16. Dez. 1801]
Diese Stadt ist sehr still, man könnte fast sagen öde. Der Schnee liegt überall auf den Bergen, und die Natur sieht hier aus wie eine 80jährige Frau. Doch sieht man ihr an, daß sie in ihrer Jugend wohl schön gewesen sein mag. –

[Heinrich Zschokke, Thun, 1. Feb. 1802]
denn die Natur ist hier, wie Sie wissen, mit Geist gearbeitet, und das ist ein erfreuliches Schauspiel für einen armen Kauz aus Brandenburg, wo, wie Sie auch wissen, der Künstler bei der Arbeit eingeschlummert zu sein scheint. Jetzt zwar sieht auch hier unter den Schneeflocken die Natur wie eine 80–jährige Frau aus, aber man sieht es ihr doch an, daß sie in ihrer Jugend schön gewesen sein mag. –
>>> Idee II:62 <<<

[Ulrike von Kleist, Bern, 12. Jan. 1802]
Ich aber drücke mich an ihre Brust und weine, daß das Schicksal, oder mein Gemüt – und ist das nicht mein Schicksal? – eine Kluft wirft zwischen mich und sie.

[Penthesilea, Vers 1281]
DIE OBERPRIESTERIN.
Unmöglich,
Da nichts von außen sie, kein Schicksal, hält,
Nichts als ihr töricht Herz
PROTHOE.
Das ist ihr Schicksal!
>>> [Bibelzitat] <<<

[Johann Wolfgang von Goethe, Dresden, 24. Jan. 1803]
Ew. Exzellenz habe ich die Ehre, in der Anlage gehorsamst das 1. Heft des Phöbus zu überschicken. Es ist auf den „Knieen meines Herzens" daß ich damit vor Ihnen erscheine; möchte das Gefühl, das meine Hände ungewiß macht, den Wert dessen ersetzen, was sie darbringen.

[Penthesilea, Vers 2800]
PENTHESILEA streichelt sanft ihre Wange.
PROTHOE.
O du,
Vor der mein Herz auf Knien niederfällt,
Wie rührst du mich!
>>> Idee II:63 | Karte 39 <<<

[Ulrike von Kleist, Leipzig, 13. März 1803]
Ich habe das Haus mit Tränen verlassen, wo ich mehr Liebe gefunden habe, als die ganze Welt zusammen aufbringen kann; außer Du! –! Aber ich mußte fort! O Himmel, was ist das für eine Welt!

[Karl Freiherr von Altenstein, Königsberg, 4. Aug. 1806]
Wie sehr haben Sie dies in Ihrem mir ewig teuren Briefe gezeigt, wie sehr ich es, als ich ihn las, gefühlt! Ach, was ist dies für eine Welt!

[Marie von Kleist, 24. Nov. 1806]
Ach, meine teuerste Freundin! Was ist dies für eine Welt? Jammer und Elend so darin verwebt, daß der menschliche Geist sie nicht einmal in Gedanken davon befreien kann.
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>>> Idee II:64 <<<

[Varnhagen von Ense, Berlin, 11. Aug. 1804]
Jünglinge lieben in einander das Höchste in der Menschheit; denn sie lieben in sich die ganze Ausbildung ihrer Naturen schon, um zwei oder drei glücklicher Anlagen willen, die sich eben entfalten.
Wir aber wollen einander gut bleiben, Heinrich Kleist.

[Ernst von Pfuel, Berlin, 7. Jan. 1805]
So nicht, wenn wir einst, von unserm Sturze erholt, denn wovon heilte der Mensch nicht! einander, auf Krücken, wieder begegnen. Damals liebten wir ineinander das Höchste in der Menschheit; denn wir liebten die ganze Ausbildung unsrer Naturen, ach! in ein paar glücklichen Anlagen, die sich eben entwickelten. Wir empfanden, ich wenigstens, den lieblichen Enthusiasmus der Freundschaft!
>>> Idee II:65 <<<

[Ernst von Pfuel, Berlin, 7. Jan. 1805]
Du hast in Leipzig mit mir geteilt, oder hast es doch gewollt, welches gleichviel ist; nimm von mir ein Gleiches an! Ich heirate niemals, sei Du die Frau mir, die Kinder, und die Enkel! Geh nicht weiter auf dem Wege, den Du betreten hast.

[Das Käthchen von Heilbronn, III/1]
KÄTHCHEN. Rede!
THEOBALD. Nun wohlan, so merk auf, und prüfe dein Herz wohl! – Du willst in das Kloster der Ursulinerinnen gehen, das tief im einsamen kieferreichen Gebirge seinen Sitz hat. Die Welt, der liebliche Schauplatz des Lebens, reizt dich nicht mehr; Gottes Antlitz, in Abgezogenheit und Frömmigkeit angeschaut, soll dir Vater, Hochzeit, Kind, und der Kuß kleiner blühender Enkel sein.
KÄTHCHEN. Ja, mein lieber Vater.
>>> Idee II:66 <<<

[Karl Freiherr von Altenstein, Königsberg, 30. Juni 1806]
Überzeugen Sie sich, Verehrungswürdigster, daß es nur das Gefühl der Unmöglichkeit ist, Ihren Erwartungen ganz zu entsprechen, und ein unüberwindlicher Widerwille, es halb und unvollständig zu tun, was mich zu einem Schritte bewegen kann, der mich in eine ganz zweideutige Zukunft führt.

[Hans Jakob Präsident von Auerswald, Königsberg, 10. Juli 1806]
Niemand kann den Schmerz, mich der Gewogenheit, mit welcher ich von Ew. Hochwohlgeboren sowohl, als von einem verehrungswürdigen Kollegio aufgenommen zu werden, das Glück hatte, so wenig würdig gezeigt zu haben, lebhafter empfinden, als ich. Nur die Unmöglichkeit, ihr so, wie ich es wünschte, zu entsprechen, und der Widerwille, es halb und unvollständig zu tun, können diesen Umstand entschuldigen.
>>> Idee II:67 <<<

[Karl Freiherr von Altenstein, Königsberg, 4. Aug. 1806]
Wie kann ein edles Wesen, ein denkendes und empfindendes, wie der Mensch, hier glücklich sein! Wie kann er es nur wollen, hier, wo alles mit dem Tode endigt! Wir begegnen uns, drei Frühlinge lieben wir uns, und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander! Und was ist des Strebens wert, wenn es die Liebe nicht ist! O es muß noch etwas anderes geben, als Liebe, Ruhm, Glück etc., x, y, z, wovon unsre Seelen nichts träumen. Nur darum ist dieses Gewimmel von Erscheinungen angeordnet, damit der Mensch an keiner hafte.

[Rühle von Lilienstern, Königsberg, 31. Aug. 1806]
Wer wollte auf dieser Welt glücklich sein. Pfui, schäme Dich, möcht' ich fast sagen, wenn Du es willst! Welch eine Kurzsichtigkeit, o Du edler Mensch, gehört dazu, hier, wo alles mit dem Tode endigt, nach etwas zu streben. Wir begegnen uns, drei Frühlinge lieben wir uns: und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander. Und was ist des Strebens würdig, wenn es die Liebe nicht ist! Ach, es muß noch etwas anderes geben, als Liebe, Glück, Ruhm etc., x, y, z, wovon unsre Seelen nichts träumen.
>>> Idee II:68 <<<

[Karl Freiherr von Altenstein, Königsberg, 4. Aug. 1806]
Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist ein bloß unbegriffener! Lächeln wir nicht auch, wenn die Kinder weinen? Denken Sie nur, diese unendliche Fortdauer! Millionen von Zeiträumen, jedweder ein Leben, und für jedweden eine Erscheinung, wie diese Welt! Wie doch der kleine Stern heißen mag, den man auf dem Sirius, wenn der Himmel klar ist, sieht? Und dieses ganze ungeheure Firmament, das die Phantasie nicht ermessen kann, nur ein Stäubchen gegen den unendlichen Raum! O mein edler Freund, ist dies ein Traum? Zwischen je zwei Lindenblättern, abends, wenn wir auf dem Rücken liegen, eine Aussicht, an Ahndungen reicher, als Gedanken fassen, und Worte sagen können!

[Rühle von Lilienstern, Königsberg, 31. Aug. 1806]
Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht; es ist ein bloß unbegriffener! Lächeln wir nicht auch, wenn die Kinder weinen? Denke nur, diese unendliche Fortdauer! Myriaden von Zeiträumen, jedweder ein Leben, und für jedweden eine Erscheinung, wie diese Welt! Wie doch das kleine Sternchen heißen mag, das man auf dem Sirius, wenn der Himmel klar ist, sieht? Und dieses ganze ungeheure Firmament nur ein Stäubchen gegen die Unendlichkeit! O Rühle, sage mir, ist dies ein Traum? Zwischen je zwei Lindenblättern, wenn wir abends auf dem Rücken liegen, eine Aussicht, an Ahndungen reicher, als Gedanken fassen, und Worte sagen können.
>>> Idee II:69 <<<

[Ulrike von Kleist, Dresden, 30. Sep. 1808]
Entschließe Dich, meine liebste Ulrike, schürz' und schwinge Dich, das Wetter ist gut, und in drei Tagen ist alles, als wär' es nicht geschehen.

[Das Käthchen von Heilbronn, IV/1]
GOTTSCHALK wendet mit dem Pferde um. Ja, was lärmst und schreist du? – Was hast du hier im Getümmel zu suchen? Warum läufst du hinter uns drein?
KÄTHCHEN hält sich an einem Stamm. Himmel!
GOTTSCHALK indem er absteigt. Komm! Schürz und schwinge dich! Ich will das Pferd an die Hand nehmen, und dich hindurchführen.
>>> Idee II:70 <<<

[Rühle von Lilienstern, Dresden, 1808]
Wenn ich auf Dich böse bin, so überlebt diese Regung nie eine Nacht, und schon als Du mir die Hand reichtest, beim Weggehen, kam die ganze Empfindung meiner Mutter über mich, und machte mich wieder gut.

[Das Käthchen von Heilbronn, IV/2]
Dort ist sie! – Wahrhaftig, wenn ich sie so daliegen sehe, mit roten Backen und verschränkten Händchen, so kommt die ganze Empfindung der Weiber über mich, und macht meine Tränen fließen. Ich will gleich sterben, wenn sie mir nicht die Peitsche vergeben hat – ach!
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[Diese Zusammenstellung geht zurück auf: Heinrich von Kleist, Geschichte meiner Seele, Ideenmagazin : Das Lebenszeugnis der Briefe, hrsg. von Helmut Sembdner, Carl Schünemann Verl. Bremen, 1959, (Sammlung Dieterich ; 233). Das obige Sembdnerzitat stammt aus der Einleitung dieses Bandes, S. XV. Der handschriftliche Ausschnitt aus Kleists Brief an Wilhelmine von Zenge aus Paris vom 10. Okt. 1801 wurde der Brandenburger Ausgabe entnommen: Heinrich von Kleist, Bd. IV/2, Briefe 2, hrsg. von Peter Staengle und Roland Preuß, Stroemfeld/Roter Stern Basel [u.a.], 1999.]

[Hier finden Sie alle Ideen mit einem Blick. Es ist ausdrücklich erlaubt, sich die Kartei herunterzuladen, sie bei Bedarf zu modifizieren, und damit selbst eigene Ideengänge zu unternehmen. Über eine Mitteilung der Ergebnisse Ihrer eigenen Ideen-Verwendung würden wir uns freuen.]

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